Wissenschaftler zweifeln an dem Jahrhundert alten Dogma der Keimfreiheit des ungeborenen Kindes!
Es tut sich was in der Forschung! Denn wenn man den Ergebnissen vieler aktueller Studien Glauben schenken darf, so ist die Gebärmutter keinesfalls so keimfrei, wie man es bisher angenommen hatte. Doch bis vor gar nicht allzu langer Zeit hatte niemand je gewagt, an dem ,,Dogma“ das der französische Kinderarzt Henry Tissier vor etwa 100 Jahren aufgestellt hatte, zu zweifeln. Neue Erkenntnisse bahnen jedoch Wege für neue Therapien und Chancen in der Geburtsmedizin …
Die Bedeutung der Keime im menschlichen Körper
Nun mehren sich jedoch die Hinweise darauf, das die werdende Mutter ihr Ungeborenes schon im Mutterleib mit einer Armee an winzigen Mikroben versorgt, die peu à peu zu einer beeindruckenden Armada an Kämpfern und Helferleins in allen möglichen Lebenslagen anwachsen. Es handelt sich dabei um Bakterienstämme, die jeden Menschen bevölkern. Und pro Mensch tummeln sich immerhin 39 Billionen Keime, also knapp das 5000-fache der Weltbevölkerung, im Körper und auf der Haut!
Aber während man diese winzigen Mikroben, früher in erster Linie mit Krankheiten in Verbindung brachte, weiß man heute, dass es gute und schlechte von ihnen gibt und dass es ihre Hauptaufgabe ist, den Menschen, zusammen mit den Immunzellen des Körpers zu schützen und zu unterstützen. Ein Denkfehler der letzten Jahre übrigens in Bezug auf die Bekämpfung schwerer Erkrankungen, bei denen die unüberlegte Anwendung von Antibiotika nicht nur die krankmachenden Keime, sondern gleich noch der eigenen Abwehrarmada an Mikroben den Gar ausgemacht haben. Ein Problem, das regelmäßig zu schweren Pilzinfektionen und sogenannten Antibiotika-Resistenzen bei den Betroffenen führt, welche für den abwehrgeschwächten Patienten ebenfalls gefährlich werden könnten.
Das Human Mikrobiom Projekt 2.0
Im ersten Teil des „Human Microbiome Project“, das 2007 durch die National Institutes of Health, eine Behörde des US-amerikanischen Gesundheitsministeriums, gegründet wurde, ging es darum, welche Bakterien sich wo, wie und warum in unserem Körper verbreiten und wie sie unsere Gesundheit beeinflussen. Jetzt ist der zweite Teil der Ergebnisse in der Fachzeitschrift ,,Nature“ erschienen.
Für das Projekt sammelte ein Forscherteam über mehr als zehn Jahre Blut- und Stuhlproben, nahm Abstriche, analysierte Bestandteile des Immunsystems, untersuchte die Zusammensetzung der Bakterien und versuchte, Muster zu erkennen. Insgesamt entstand so eine Datenmenge von 42 Terabyte.
Einfluss auf Frühgeburten und Darmerkrankungen
Ein Teilaspekt dabei war auch, ob und wie sich die Bakterienbevölkerung bei Menschen mit verschiedenen gesundheitlichen Problemen verändert. Folgende Aspekte wurden analysiert:
- schwangere Frauen mit einer Frühgeburt,
- Menschen mit einer chronisch entzündlichen Darmkrankheit und
- Personen mit einer Vorstufe von Diabetes Typ 2.
Die Ergebnisse verteilen sich auf mehr als 20 Manuskripte. Sie sprechen dafür, dass das Mikrobiom vor allem Frühgeburten und Darmerkrankungen beeinflusst, möglicherweise auch die Entwicklung von Diabetes.
Frühgeburten: Veränderungen der Zusammensetzung der Mikroben bleibt aus, möglicher Zusammenhang mit Vitamin D
Für die Studie zu Frühgeburten begleiteten die Forscher rund 1500 Frauen während der Schwangerschaft, insgesamt sammelten sie mehr als 200.000 Proben – darunter Abstriche von Vagina, Rektum, Haut, Nase und Mundhöhle, sowie Blut und Urinproben.
Den Ergebnissen zufolge verändert sich die Besiedelung der Vagina im Laufe einer gesunden Schwangerschaft. Während zu Beginn der Schwangerschaft eine sogenannte Richness (Reichhaltigkeit) und Diversität (Verschiedenartigkeit) der Mikroben vorherrscht, entwickelte sich das Mikrobiom im letzten Schwangerschaftsdrittel in seiner Mannigfaltigkeit zurück und konzentriert sich vor allem auf Milchsäurebakterien.
Anders war das bei Frauen, die eine Frühgeburt erlitten. Bei ihnen zeigte sich oft bis zum Ende der Schwangerschaft keine wesentliche Veränderung. Zusätzlich fiel auf, dass diese Frauen auch häufiger einen Mangel an Vitamin D hatten. Wie dies mit der ausbleibenden Veränderung der Mikroben zusammenhängt, ist noch nicht genau geklärt. Auf alle Fälle scheint es auch während der Schwangerschaft wichtig, für eine ausreichende Vitamin D Zufuhr zu sorgen.
Aber auch, warum sich bei einer normalen Schwangerschaft die Mannigfaltigkeit der Keimzusammensetzung reduziert, ist Thema von Spekulationen. Ein Erklärungsversuch wäre, dass durch mögliches Aufsteigen der Mikroben durch die Vagina in die Gebärmutter zum Kind dessen kaum ausgereiftes Immunsystem überfordert wäre und eine (Früh-) Geburt ausgelöst würde.
Ebenfalls möglich wäre, dass bestimmte Mikroben Enzyme und Toxine freisetzen, die zu einer vorzeitigen Beendigung der Schwangerschaft führen würden.
Kommt es bei der normalen Schwangerschaft schon vor der Geburt zu einer Keimübertragung?
Zusätzlich fiel den Forscher aber noch ein anderer Aspekt ins Auge. Die Theorie, die bis vor kurzem vorgeherrscht hatte, ging davon aus, dass erst bei der Geburt durch den Geburtskanal Bakterienflora auf das Kind übertragen würden, die dann die Grundlage dessen Darmflora und des Immunsystems sein würde.
Es gab hierzu verschiedenes Studienmaterial, allerdings auch eine die zeigte, dass die Bakterien des vaginalen Geburtskanals und jene, die man kurz nach der Geburt beim Säugling fand nicht übereinstimmten.
Aber auch mehrere andere Hinweise legten nahe, dass sich bereits vor der Geburt innerhalb der Gebärmutter und sogar im Darmtrakt des Föten Mikroben befinden würden. Sowohl im ersten Stuhl des Neugeborenen, im Fruchtwasser und bei einem Drittel der untersuchten Proben innerhalb der Zellen des Mutterkuchens waren die winzigen Siedler bereits anzutreffen (Mysorektar 2011, Aagaard 2014, Neu 2014, Colado 2016). Für eine Entwicklung der Bakterienflora bereits im Laufe der Schwangerschaft sprach auch, dass der erste Stuhlgang des Neugeborenen (Mekonium) eine unterschiedlichen Zusammensetzung der Keimbesiedlung je nach Geburtstermin aufweist.(Ardissonen, Neu 2014).
Dabei könnte die Keimübertragung von der Mutter auf das Kind durch den Mund, die Scheide, durch den Mutterkuchen oder nach der Geburt über die Brust beim Stillen vonstatten gehen.
Übrigens hatten diese Bakterienflora am meisten Ähnlichkeit mit der Mundflora der Mutter. Dies führt zu der Annahme, dass die Mikroben zumindest in Anteilen von dort kommen und dann zur unteroplazentaren Einheit gelangen.
Studien lassen außerdem vermuten, dass bei geistigem oder körperlichem Stress der Schwangeren diese Keim-Übertragung auf ihr ungeborenes Kind gestört ist und zu geistigen Entwicklungsstörungen führen kann (Bale, 2018).
Auch wenn diese neuen Erkenntnisse erst den Anfang einer neuen Ära darstellen, so lassen sie doch erahnen, welche Bedeutung die Keimflora für die Abwehrlage des Kindes hat und dass wir dem Mikrobiom während der Schwangerschaft noch mehr Aufmerksamkeit als bisher schenken sollten.
Was ist für dieBehandlung aktuell wichtig?
Studien haben gezeigt, dass man durch unterstützende Gabe von Lactobazillen während der Schwangerschaft das Wohlbefinden der Mutter deutlich steigern konnte und durch Gabe von speziellen Zubereitungen von Synbiontika an das Neugeborene dessen Dreimonats-Koliken, unter denen bis zu 70% leiden, deutlich vermindert werden konnten.
Was sind Synbiotika?
Das ist eine Medikamentenmischung, die das körpereigene Mikrobiom-Immunsystem unterstützen soll. Es setzt sich aus Präbiotika, die die Mikroben ernähren und dessen Wachstum unterstützen sollen und Probiotika, die lebende Organismen enthalten.
Ausblick
Die Hinweise aus den Studien, dass die Grundlagen des Immunsystems schon während der Schwangerschaft durch Keimübertragung von der werdenden Mutter auf ihr ungeborenes Kind gelegt würden, könnten auch dazu beitragen, dass ausgesuchte Schwangerschaftskomplikationen in Zukunft eventuell durch die Beeinflussung des mütterlichen Mikrobioms währende der Schwangerschaft behandelt werden könnten. Hier wäre auch an eine Impfung mit der entsprechenden Keimflora zu denken, um Mutter und Kind bei der Ausbildung des Immunsystems zu unterstützen.
Auf alle Fälle geben diese Studienergebnisse Denkanstöße, die Forschungen auf diesem Gebiet voranzutreiben, um damit schwangeren Frauen und ihrem ungeborenem Kind vielleicht neue Behandlungsoptionen bieten zu können.
Sehr geehrte Dr. Nessy, wieder einmal zeigt sich, dass ich keine Ahnung habe. Zwar war ich ein Geburtsmann und bin dabei nicht ohnmächtig geworden, aber der dargestellte Rest sind für mich Böhmische Dörfer. So verwundert es vielleicht nicht, dass ich davon ausgegangen war, was die Wissenschaft heute herausgefunden hat, denn einfach so 9 Monate im Mutterleib abzuhängen, ohne mehr Nutzen als nur das Wachstum aus dieser Zeit zu ziehen, wäre mir unsinnig vorgekommen 😉 Schön, dass nun meine laienhaften Ansichten bestätigt wurden 😀 Meine besten Grüße ins Forschungszimmer!
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LIeber Arno! Danke Dir, mein Charmeur, der es immer wieder schafft, meine Laune um mindestens 10° anzuheben! Was mich an dieser Sache wieder ärgert ist, dass vor 100 Jahren irgendein Horst irgendetwas behauptet hat und seitdem ist diese Aussage (,,der Mutterleib ist steril“) Gesetz und wurde Millionen von Medizinstudenten so gelehrt. Und das ist noch bei weitem nicht der schlimmste ,,Klops“ der in der Medizin herumgeistert! Sicher bist Du meiner Meinung, dass Klöpse in die Suppe gehören. Man kann sie natürlich auch in die Tonne klopsen …
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